Was heißt "Evangelisch – reformiert" ?

 
1.) Ein Blick in die Geschichte


Die reformierte Kirche geht – wie die lutherische ja auch – auf die Reformation im 16. Jahrhundert zurück. Es ist aber die Reformation der 2. Generation, die auf den Fortschritten und Ergebnissen der Neuerungen Martin Luthers und seiner Mitstreiter fußt und sie dann weiter ausgebaut hat. Bewusst haben sich die Väter der reformierten Richtung darum "reformierte" Kirche genannt – also erneuerte Kirche, die sich namentlich nicht einem bestimmten Reformator zuordnen lassen wollte und will. Die manchmal gängige Bezeichnung "Calvinisten" wurde immer als Schimpfname seitens der Gegner verwendet und hat niemals den Charakter einer selbstbestimmten Benennung erhalten.


Calvinplatte in LünneUnter den vielen reformierten "Vätern" ragen besondern Ulrich Zwingli und Johannes Calvin heraus.
Zwingli, ebenfalls ehem. Mönch, wirkte in Zürich (1484 – 1531), und ist als einziger "Reformator" ein Zeitgenosse Luthers. Calvin (Cauvin), der Reformator Genfs (1509 – 1564), war ein französischer Jurist, der auch kurz in Basel und Strasbourg wirkte. Als Hauptwerk verfasste er die INSTITUTIO.
Sie wollten das Wort Gottes als Maßstab und Mitte kirchlichen Lebens zur Geltung bringen und vollzogen den Bruch zur mittelalterlichen katholischen Kirche noch radikaler als die lutherische Kirche: Aufgabe der Messordnung, Einführung des Psalmengesangs, Gebet, Bibellesungen und Predigt in den schlichten Gottesdiensträumen ohne schmückendes Beiwerk durch Bilder, Altäre, Kruzifixe oder Kerzen, ganz im Zuge der konsequenten Auslegung des 2. Gebots.

Reformierte Kirchen haben sich überall in Europa und Übersee ausgebreitet. Sie nennen sich häufig "Presbyterianische Kirchen", nach dem Prinzip der Ältestenordnung (Presbyter), die als Gemeindeleitungsform maßgeblich ist. Dem Reformierten Weltbund gehören heute über 180 Kirchen in 90 Ländern an. Während des 19. Jahrhunderts wurden in einigen Gebieten Deutschlands Lutheraner und Reformierte in einer evangelischen Kirche vereint (Unierte Kirchen). Auch in diesen Kirchen haben sich viele Gemeinden ihre reformierte Prägung erhalten (Niederrhein, Siegerland, Tecklenburger Land, Hessen). Aber im Norwesten Deutschlands blieben die beiden großen Kirchen selbständig nebeneinander bestehen. 1882 ermöglichte Kaier Wilhelm I. als König von Preußen den Reformierten in seinem Herrschaftsgebiet die Gründung einer eigenen Kirche. Andere freie refomierte Gemeinden, vorwiegend hugenottischen – also französischen – Ursprungs, haben sich in der Folgezeit der Ev. - ref. Landeskirche mit Sitz in Leer / Ostfr. angeschlossen – so 1988 die 10 reformierten Gemeinden Bayerns.


2.) Leitung und Verfassung

Die Ev. -ref. Kirche versteht sich als ev. Gemeindekirche mit presbyrial-synodaler Struktur. Das heißt: Die Leitung liegt auf allen Ebenen bei gewählten Mitrgliedern. Auch die Pastorinnen und Pastoren werden in freier Wahl von den Gemeinden (ab der Konfirmation wahlberechtigt) bestimmt. Die Verfassung wendet sich gegen jede Art hierarchischer Kirchenleitung. Das kommt in den Grundsätzen zur Geltung, die auf Beschluss der Emder Synode von 1571 zurückgehen:
"Keine Gemeinde darf über eine andere, kein Gemeindeglied über ein anderes Vorrang oder Herrschaft beanspruchen. Alle Leitung geht von Kirchenräten und Synoden aus. Die Gemeinden ordnen ihre Angelegenheiten selbständig."

Die Gemeinden wählen alle drei Jahre die Hälfte des Kirchenrats (Presbyteriums) für die Zeit von sechs Jahren, Wiederwahl ist zulässig; größere Gemeinden wählen zudem eine Gemeindevertretung, die dem Kirchenrat nachgeordnet ist und bei der Haushaltsplanung sowie größeren finanziellen oder baulichen Entscheidungen mit zu entscheiden hat. Es können Berufungen für Personen mit besonderen Qualifikationen ausgesprochen werden. Der Pastor muss nicht gleichzeitig Vorsitzender des Kirchenrates sein.

In der Ev. -ref. Kirche leben zur Zeit knapp 200.000 Glieder in 142 Gemeinden zwischen Borkum und dem Allgäu bzw. Stuttgart und Leipzig. In den verschiedenen Regionen haben sich die Gemeinden zu eigenständigen Synodalverbänden (entspr. Kirchenkreisen) zusammengeschlossen. Diese entsenden Synodale zu der zweimal im Jahr stattfindenden Gesamtsynode, dem Kirchenparlament. Das neunköpfige Moderamen ist die ständige Vertretung der Gesamtsynode und wird von ihr für eine Legislaturperioden von sechs Jahren gewählt.  Aus ihrer Mitte wird der vierköpfige Synodalrat bestimmt, der als kirchliche Aufsichtsbehörde fungiert. Die Synode wählt ebenfalls den Kirchenpräsidenten (kein Bischof) als leitenden Theologen für 12 Jahre sowie dessen Stellvertreter (Kirchenjuristen).


3.) Einige Merkmale der reformierten Kirche

Kirchen: Es sind schlichte Bauten, die sich im Innenraum durch nüchterne Sachlichkeit auszeichnen; d.h. Es fehlen Altäre, Kruzifixe, Bilder, Statuen – sofern es nicht ehem. Katholische Kirchen sind, deren evtl. bedeutsame Wandmalereien wieder zugänglich gemacht werden. Verbildlichungen von Menschen oder Gott werden wegen der Ernstnahme des 2. Gebots (Bildergebot) vermieden. Weil ein Altar im strengen AbendmahlstischSinn ein Opfertisch ist und darauf nach kath. Lehre das Kreuzesopfer Jesu Christi unblutig wiederholt wurde und weil Altäre nach einem Heiligen benannt und eine Reliquie dieses Stifters eingemauert wird, lehnen die Reformierten Altäre für ihre Kirchen ab, die ja im übrigen auch keine Heiligenverehrung kennen. Der Abendmahlstisch der Reformierten ist ein schlichter Tisch im Chorraum, geschmückt mit Bibel und Blumen (und manchmal mit Kerzen), um den herum sich die Gemeinde zum Empfang des Sakraments in Brot und Wein bzw. Saft trifft, allerdings seltener als in anderen Kirchen, nur an hohen Feiertagen. Diese reformiert geprägte "Abendmahlsscheu" ist begründet in der Ablehnung einer mittelalterlichen Missdeutung einerseits und einer hohen Wertschätzung des zu predigenden Bibelwortes andererseits.

Gottesdienst: Die Liturgie ist schlicht, der Gemeindegesang unterbricht Lesungen, Gebete, Bekenntnis und Predigt. Besonders gepflegt wird der Psalmengesang – alle 150 biblischen Psalmen sind bereimt und vertont (Genfer Psalter). Die Predigt steht im Mittelpunkt, auf sie hin ist alles im Gottesdienst ausgerichtet und orientiert. Oft werden Texte des Alten Testaments gepredigt, wodurch der in der reformierten Theologie verankerte Bundesgedanke verdeutlicht wird, also die unlösbare Verbindung Gottes zu seinem Volk Israel, die dann in Jesus Christus für alle Welt gestiftet wurde. Statt der im katholischen und lutherischen Gottesdienst üblichen festen Leseordnungen der Predigttexte können reformierte Prediger Bibelworte frei wählen. Daraus entwickelte sich die Predigtform der "lectio continua", also der fortlaufenden Auslegung eines biblischen Buches oder eines Bekenntnisses, verteilt auf mehrere Sonntage.


Bekenntnisschriften: Neben den altkirchlichen ökumenischen Bekenntnisschriften gelten vorbehaltlich weiterführender schriftgemäßer Glaubebserkenntnis der Heidelberger Katechismus von 1563 und die Barmer Theologische Erklärung von 1934. Bekenntnisse gelten als zeitgemäße Auslegungen der Glaubenswahrheiten und können, wenn sie mehr Unklarheit als gute Antworten auf die Fragen und Probleme der Gegenwart bieten, vernachlässigt werden. Dann können Neuformulierungen an ihre Stelle treten, um evtl. eindeutiger zu bekennen, wozu sich die reformierte Kirche als Ganze genötigt sieht.

Heiligung / Ethik: Als bedeutsames Verständnis der Hl. Schrift für jeden Christen gilt das Empfinden, dass der Gottesdienst nicht am Sonntag um 11 Uhr aufhört, sondern dass er in den Alltag hineinragt und ihn regiert. Das alltägliche Leben soll durchdrungen sein vom Wort Gottes, von der Beachtung seiner Gebote und eines ehrbaren Lebens. So wird das Leben und die Welt geheiligt im Sinne Gottes. Die Armenfürsorge ist ein wesentlicher Teil reformierter Ethik und Lebensgestaltung sowie die Bildung der Kinder und Gläubigen. Es gibt nicht wie im Luthertum die Vorstellung einer zweigeteilten Weltsicht: Dort das Reich der Politik mit Gewaltanspruch und hier das Reich Gottes mit der Gnade. Nach Jesu "Königsherrschaft" gehört das ganze Leben in den Anspruch Gottes, wodurch jeder Christ acht zu geben hat, dass Gottes Gebote auch vom Staat her beachtet werden. Notfalls ist diese Beachtung einzufordern durch die Kirche.


Kirchen- und Pastorenverständnis: Die Kirche ist keine Heilsanstalt und Gnadenvermittlerin, sondern der immer noch von Gott gesegnete Zusammenschluss sündiger Menschen, die in dieser geschichtlich entstandenen Struktur dem göttlichen Wort Kraft und Spur verleihen – mehr nicht.
Auch die Prediger sind weniger Priester und Verwalter der göttlichen Gnade, die in langer Tradition apostolischer Nachfolge stehen, durch einen Bischof geweiht werden und somit "im Namen" Gottes auftreten und z.B. Segen verteilen können. Reformierte PredigerInnen verstehen sich mehr als Propheten, die dem Volk vorangehen, die "Mund Gottes" nach dem Zeugnis der Schrift sind, fehlbar und auf Vergebung angewiesen sind wie alle anderen, mit denen sie zusammen in der Verantwortung stehen, Gott die größere Ehre zu geben. Sie verweisen auf Gottes Gnade im Seelsorgegespräch, können aber selbst nicht die Absolution erteilen, weil nur Gott das zusteht. Der wird aber jedes ehrliche Beichten und Bereuen zur Vergebung bringen. Der im Auftrag der Kirche ordinierte Pastor ist Diener am Wort Gottes und niemals Amtsträger mit göttlichen Weihen.